Einer Aufnahme von Kindern in eine Pflegefamilie gehen meist ambulante Hilfeprozesse voraus, die Kinder waren oft langanhaltend ungünstigen Entwicklungsbedingungen ausgesetzt, wie: massive Vernachlässigung und/ oder Misshandlung, und machen dies auch vielfach deutlich.
So belegen neuere Studien und Forschungen, dass deutlich über die Hälfte der in Pflegefamilien aufgenommenen Kinder Traumatisierungen und damit verbunden PTBS aufweisen, und die Rate an Bindungsstörungen entsprechend hoch ist. Für 69,1% der Pflegekinder wurde nach einer Studie von Unterberg, Schröder u.a. eine psychische Belastung angegeben, die im klinisch auffälligen Bereich liegt (Familiendynamik 4/139).
Die Erwartung an Pflegefamilien, Sonderpflegestellen, Erziehungsstellen oder Sozialpädagogische Lebensgemeinschaften, die ich gerne unter zusammengesetzte Familiensysteme subsummiere, ist es diese Kinder zu integrieren und ihren besonderen Bedürfnissen gerecht zu werden.
Basierend auf den familialen Besonderheiten oder Sozialisationspotentialen wie: kontinuierlich gegebene Nähe, Interaktionsdichte und Zeitstruktur und daraus resultierender familialer Intimität: emotionaler Vertrautheit; Sicherheit; Geborgenheit sollen – insbesondere jüngere Kinder – aber auch Jugendliche in der Pflegefamilie beheimatet werden, tragfähige hilfreiche Beziehungen mit ihnen entwickelt werden, dies unter Einbeziehung notwendiger externer psychosozialer Hilfen in den pädagogischen Gesamtprozess. Die Pflegefamilie öffnet sich so nicht nur für das Kind, das Jugendamt oder den Träger.
Gemessen an diesen Erwartungen, die ja in der Regel auch als Aufgaben oder Ziele detailliert beschrieben werden, ist Kindeswohl in Pflegefamilien zu definieren, d.h. die vormals eher hohe Toleranz in der ambulanten Gefährdungseinschätzung wird durch eine deutlich niedrigere Toleranz abgelöst.
Ich möchte dies an einem Fallbeispiel verdeutlichen:
Micha, 7 Jahre alt
Micha wurde im Alter von 4 Jahren Inobhut genommen wegen Verwahrlosung und massiver Gewalt. Es erfolgte eine Diagnostik in einer Klinik, danach wurde er in einer
Pflegefamilie mit zwei Töchtern 7 und 9 untergebracht.
Das damalige Hilfesetting bestand aus:, Beratung, Kollegiale Beratung, Therapie, KiGa und einer Vormünderin.
Nach anderthalb Jahren teilte die Pflegefamilie mit für ein Jahr nach Spanien zu ziehen.
Um einen Abbruch zu vermeiden wurde gemeinschaftlich ein befristetes Hilfesetting geplant: Auslandsprojekt befristet für ein Jahr, Beratung im Wechsel, Erhalt des Kontakts zur Großmutter, Beschulung in einer deutschen Schule.
In den ersten Monaten wurde schon deutlich, dass diese Veränderungen unerwünschte Auswirkungen auf Micha hatten. Er zeigte zunehmend Auffälligkeiten, es bestanden Probleme in Schule und Familie.
Aus fachlicher Sicht stand dies deutlich in Verbindung mit den erlebten Traumata. Das Hilfesetting wurde erweitert um eine Einzelfallhilfe und Wiederaufnahme von Therapie bei einer deutschsprachigen Psychologin.
Nach einem Jahr wurde deutlich, dass die Familie so schnell nicht zurückziehen wollte. Daraufhin erhöhte der Träger seine Präsenz vor Ort durch Besuche von bis zu einer Woche. Dabei wurde deutlich: Ablehnung bis Mobbing durch die Töchter, hoher Anpassungsdruck durch die Pflegeeltern, dass Familiensystem erschien am Limit.
Da die deutsche Schule sich weigerte ihn weiter zu beschulen, meldeten die Pflegeeltern ihn ohne Absprache an einer spanischen Grundschule an. Dies stellte eine weitere massive Überforderung an Micha dar, der kaum spanisch sprach.
In Absprache mit Jugendamt und Vormünderin erfolgten weitere Gespräche mit der Familie und einvernehmlich verließ Micha die Familie.
Gründe:
Die weitere Entwicklung von Micha erschien deutlich gefährdet, diese Einschätzung wurde von den involvierten Fachkräften geteilt. Zwar erkannte auch die Pflegefamilie, dass die Entwicklung des Kindes in einem negativen Verlauf war, schrieb aber die Ursachen dafür wesentlich dem Kind zu und verhielt sich hinsichtlich der eigenen Anteile relativ uneinsichtig. Die deutlich notwendigen Veränderungen zum Wohle des Kindes wurden von ihnen abgelehnt: Rückzug nach Deutschland, angemessene Beschulung und Traumatherapie, enge Beratung und Begleitung der Familie.
Im Verlauf der Krisenintervention wurde also deutlich:
– Problemeinsicht bestand bei allen Beteiligten
– eine Problemkongruenz war nicht herzustellen
– Kooperation hinsichtlich hilfreicher Veränderungen war nicht möglich
Die Sichtweise der Pflegeeltern war unveränderbar limitiert auf ein spezifisches Ursache-Wirkungsverständnis. Dies verhinderte ein kongruentes Verständnis und gemeinsames Handeln
Problemeinsicht – Problemkongruenz – Kooperationsfähigkeit
Dies sind leitende Kriterien für eine Gefährdungseinschätzung im ambulanten Bereich der Kinder- Jugendhilfe, aber auch nützlich in anderen Bereichen.
Darüber hinaus ist schlicht festzustellen, dass in einer konventionellen Familie in einer ähnlichen Situation keine Herausnahme erfolgt wäre.
Weiter zeigt sich hier: Familien sind keine Organisationen
Pflegefamilien sind eigenwillige und relativ autonome Systeme, sie sind schwerlich instruierbar und bleiben Familiensystem, auch wenn sie einer Organisation angebunden sind. Ihre Entwicklung und die Dauer ihres Bestands sind nur eingeschränkt vorhersehbar. Die Personen dieses Systems sind – im Gegensatz zu Organisationen – nicht austauschbar, ebenso wenig das von allen Familienmitgliedern verinnerlichte Bild der eigenen Familie.
Die Anforderungen an einen Pflegekinderdienst sind entsprechend:
-Weit gefasstes und vertieftes Verständnis von Familie
– Gute Schwingungsfähigkeit, d.h. Leitung, Kontrolle und Beratung unter Wahrung der familialen Autonomie und – gleichzeitig – der kindlichen Interessen.
Das folgende Beispiel verdeutlicht, dass neben dieser Grundkompetenz weitere Ressourcen notwendig sind, um besonderen Situationen gerecht zu werden.
Andreas, 10 Jahre alt
Auch Andreas erfuhr früh Verwahrlosung und massive Gewalt. Mit 3 Jahren kam er in eine Pflegefamilie, in der er seit 7 Jahren lebt. Die Pflegeeltern haben zwei Söhne, die altersmäßig einen deutlichen Abstand zu Andreas haben ( 19 und 21 Jahre ).
Das Zusammenleben mit Andreas war von Anfang sehr schwierig, er hat bis heute eine generalisierte Angststörung, geht immer wieder Schulverweigerung. Im Alter von 8 Jahren wurde ihm §35a zugesprochen. Angst, Verweigerung und Impulsdurchbrüche belasteten die Familie zwar stark, aber alle waren im Zusammenhalt bemüht.
Mit Auszug der Söhne, die ihr Studium begannen, nahmen die Impulsdurchbrüche zu: Gewalt gegen Gegenstände und körperliche Attacken, bevorzugt gegen die Pflegemutter wurden immer bedrohlicher.
In dieser Situation erlebten sich die Pflegeeltern von ihrem Träger nicht unterstützt. In einer Eskalation schlug die Pflegemutter zurück, um sich seiner Angriffe zu erwehren ( Ohrfeige ). Dies sprach sie auch in der Beratung an. Auch darauf reagierte der damalige Träger nicht mit einer Erweiterung des Hilfeangebots.
Daraufhin bemühten sich die Pflegeeltern um einen Trägerwechsel. Der neue Träger setzte als Beraterin eine Kinder-Jugendlichen-Therapeutin und Fachberaterin für Psychotraumatologie ein. Einige Wochen nach Trägerwechsel geschah eine weitere Eskalation, in der die Pflegemutter wieder zur Ohrfeige griff. Auch dies wurde thematisiert, und von allen am Prozess Beteiligten als: No Go, markiert. In diesen Gesprächen zeigte sich aber auch deutlich, dass Problemeinsicht – Kongruenz- Kooperation in der Zusammenarbeit mit den Pflegeeltern deutlich gegeben war, aber:
die Familie erschien in einem chronifizierten Zustand der Überforderung.
Die Pflegeeltern hatten seit 7 Jahren keinen Urlaub gehabt, die vorherige Beratung erschien in der Beschreibung durch die Pflegeeltern wenig kompetent und deutlich esoterisch angehaucht, bestrebt den Pflegeeltern eine fatalistische Haltung bei zu bringen. Mittlerweile hatten sich Konfliktmuster etabliert, die alle an die Grenzen der Belastbarkeit brachten. Deutlich war aber auch die Qualität der gegenseitigen Bindungen und die hohe Motivation aller trotzdem als Familie zusammen zu bleiben.
Das Hilfesetting wurde erweitert durch die Einbeziehung einer Einzelfallhilfe, erneuter Einzel- und Gruppentherapie für Andreas. Auszeiten für die Pflegeeltern wurden geplant.
Alle sprechen bisher von einer gelingenden Entwicklung. Oder: eine drohende Kindeswohlgefährdung konnte abgewendet werden ?
Durch die Aufnahme eines Pflegekindes kommt ein Familiensystem unweigerlich in bis dahin unbekannte Schwingungen, die auch zu krisenhaften Verläufen und Abbrüchen führen können. Ein Familiensystem kommt zum Kippen. Die Abbruchquoten in diesem Bereich bilden dies ab.
Die besonderen familialen Eigenschaften wie: Nähe, Kontinuität und Personengebundenheit können durch das Zusammenleben mit einem zunächst fremden Kind und in seiner psychosozialen Disposition dann näher bekannten Kind auch zu einer Falle werden, in der eine angemessene Nähe-Distanz-Regulation nicht möglich ist, das Übertragungsgeschehen zunehmend zur Belastung wird, und in Verbindung mit traumatischem Erleben und beeinträchtigter Bindungsfähigkeit der elterliche Stress steigt und dann anhaltend hoch bleibt. Dann sind Pflegefamilien im Gefährdungsbereich.
In der Studie von. Unterberg, Schröder u.a. (Familiendynamik 4/139 wird die hohe Wechselwirkung zwischen der psychosozialen Disposition der aufgenommenen Kinder und dem Stressniveau der Pflegeeltern nachgewiesen.
Gelingt es nicht zusammen mit den Pflegeeltern ein gemeinsames Verständnis, notwendige Veränderungen und Lösungen zu entwickeln und fortzuführen, sowie unterschiedliche Entlastungsmöglichkeiten zu etablieren, so kann dies unterschiedliche Auswirkungen haben: zunehmende Ablehnung und Abwertung/Stigmatisierung des Pflegekindes, Ausstoßungstendenzen und Abbruch, aber auch sekundäre Traumatisierung der Pflegepersonen und deren Burnout.
Auf diesem Hintergrund könnte die Kindeswohlgefährdung bezogen auf Pflegekinder auf mögliche Gefährdungen der Familie und der leiblichen Kinder erweitert werden.
Eine Krise lässt sich nicht im Vorhinein genau definieren, aber es ist wichtig das Ausmaß und mögliche Wirkungen von Krisen zu erkennen und Folgeeffekte zu verhindern oder professionell darauf zu reagieren.
Gefragt ist also in Beratung und Begleitung eine Kriseninterventionskompetenz, die aktuelle, komplexe Situationen – auch in Verbindung mit einer Gefährdung – zu erfassen vermag, und Prozesse einer neuen Ausrichtung und Veränderung initiiert. Und wo dies nicht möglich ist eine Beendigung des Pflegeverhältnisses möglichst im Konsens herstellt.
Es ist also sinnvoll ein Kriseninterventionskonzept für Pflegefamilien zu entwickeln, das in ein Konzept des zuständigen Trägers eingebunden ist.
Dieses Konzept sollte wesentlich folgende Prozesse abbilden:
Prävention:
- Anforderungsprofile: Pflegefamilien und Fachkräfte
- Auswahl und Vorbereitung
- Aufnahme / Passung(matching)
Prozess:
- Beratung und Begleitung der Pflegeeltern
- Begleitung des Pflegekindes
- Spezifische Beratung
- Elternarbeit
- Vernetzung
- Frühe Hilfen
Krisenintervention:
- Beratung, Entlastung, Diagnostik und Therapie
- Gefährdungseinschätzung
Eine Ernsthaftigkeit in der praktischen Umsetzung ist daran zu erkennen wie eng die Kopplungen im Helfersystem – und dazu gehört jede Pflegefamilie- sind.
Lose Koppelung |
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Enge Koppelung |
gelegentlich |
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kontinuierlich |
indirekt |
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direkt |
möglicherweise |
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sicher |
plötzlich geplant |
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organisiert |
unstrukturierte Form |
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prägnante Form |
So nennt Klaus Wolf einen gut aufgestellten Pflegekinderdienst einen Hochleistungsdienst (Dialog Erziehungshilfe 2/13), und dieser Anspruch ist wie dargelegt berechtigt.
Zur Veranschaulichung möglicher Ausgestaltungen das nachstehende Organigramm der Perspektiven für Kinder gGmbH:
Die enge Kopplung der beiden Bereiche – stationär und ambulant/aufsuchend – ermöglicht ein
gegenseitiges Lernen, Unterstützen und Entlasten.
Abschließend
Bezogen auf die spektakulären Fälle von Kindeswohlgefährdung in Pflegefamilien, von denen die schlimmsten Verläufe mit Kindestötung endeten, denke ich, dass dies insbesondere den ungenügenden fachlichen Rahmungen zu zuschreiben ist:
- Oberflächliche Auswahl der Pflegeeltern
- fehlende Koordination und Kooperation
- ungenügendes Krisenmanagement und falsche Gefährdungseinschätzung
Ein gut qualifizierter Pflegekinderdienst ist also der beste Schutz für das Wohl der Pflegekinder, und die beste Form der Pflege für Familien, die Pflegekinder aufgenommen haben.
Zu fragen bleibt, warum dies nicht flächendeckend umzusetzen ist und sich auch heute noch Trends durch zu setzen scheinen, die eher trivial begründet erscheinen, wie z.B. die milieunahe Unterbringung?
Referent
Dipl. Sozialpädagoge Hartmut Reisdorf
Psychoanalytisch-Systemischer Therapeut und Supervisor
Dozent für Systemische Beratung
Geschäftsführende Leitung der Perspektiven für Kinder gGmbH in Hürth